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Zeitgenössische Konzertmusik gilt als anstrengend, intellektuell und unsinnlich. Das groß angelegte CD-Projekt "MoMu" will die moderne Klassik aus ihrem Nischendasein befreien - und sorgt für so manche klangliche Überraschung.
Noch immer hat das Konzertpublikum keinen wirklichen Frieden mit Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono, John Cage & Co. geschlossen: Atonale Klangvisionäre sind auch nach langen Jahren der Präsenz in Konzerthallen und Rundfunksendungen Hätschelkinder einer kleinen, elitären Musikologen-Kaste geblieben. Versuche wie der von Star-Dirigent Ingo Metzmacher, mit einer verständlich geschriebenen Monografie ("Keine Angst vor neuen Tönen") die E-Musik des 20. Jahrhunderts zu erklären, bilden die Ausnahme.
Moderne? Nicht so gerne
Moderne Musik ist für viele nach wie vor ein Mysterium, unsinnlich, intellektuell und kalt. Da sie aber zum bildungsbürgerlichen Klangkanon gehört, muss man sie hören - selbst für aufgeschlossene Klassikliebhaber oft kaum mehr als eine lästige Pflichtübung. Dabei ist längst nicht alles atonal im 20. Jahrhundert: Viele Komponisten wurden totgeschwiegen, als "entartet" verboten oder nach ihrem Tod einfach ignoriert, weil sie nicht dem Zeitgeschmack entsprachen.
Die Klassikabteilung des Plattenmultis Universal (inzwischen Heimat der legendären Deutschen Grammophon Gesellschaft) will hier ein Zeichen setzen: mit der zwei CDs umfassenden Sammlung "Modern Music - Meisterwerke des 20.Jahrhunderts", deren Design an die Berliner "MoMa"-Kunstausstellung erinnert. Ausgewählt wurden rund 40 Kompositionen aus einem üppigen Katalog an modernen Werken des vergangenen Jahrhunderts, die alle erstaunlich harmonisch klingen.
Das Füllhorn von CD-Preziosen ist der perfekte Einstieg für alle Harmoniesüchtigen, die zwischen Frühstücksklassik à la Vivaldi und Zwölftonmusik nach einer neuen Hörheimat suchen. Dass in diesem Paket einige alte Bekannte wie Hans Werner Henze, Olivier Messiaen, Steve Reich und sogar Arnold Schönberg zu finden sind, stört nicht weiter. Denn wer kennt andererseits schon Heinz Tiessen, Walter Braunfels, oder Philippe Hersant? Diese Entdeckungen machen den größten Teil des Programms aus.
Sound für Hitchcock
Zum Beispiel der nach wie vor als Geheimtipp gehandelte Sir Arnold Trevor Bax (1883-1953): Während man bei uns regelmäßig Benjamin Britten, Edward Elgar oder Vaughn Williams im Konzertsaal hören kann, sind die klangsinnlichen, programmatischen Stücke des Engländers immer noch eine echte Entdeckung. Nicht umsonst hat sich so mancher Hollywood-Filmkomponist Anregungungen von Bax geholt. "November Woods" in der Einspielung von Sir Andrew Davis und dem BBC Symphony Orchestra zum Beispiel lässt unmittelbar an Alfred Hitchcocks Thriller denken.
Dass Bax auch kammermusikalische Formen perfekt beherrschte, belegen seine ebenso eingängigen wie melodisch rauschenden Stücke für Bratsche, Klavier und Harfe, die in dieser Instrumentenkombination eine Rarität der Kammermusik-Literatur sind.
Oder die Oper "Die Vögel" von Walter Braunfels (1882-1954): Bereits 1996 mit dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin unter Lothar Zagrosek eingespielt, ist sie gleichzeitig ein Tondokument aus der Zeit, als für Plattenlabels noble Nischenproduktionen noch zum guten Ton gehörten. Mit Hellen Kwon (Sopran) und dem heutigen Bayreuth-Star Endrik Wottrich (Tenor) hat das "Lyrisch-phantastische Spiel" nach Texten von Aristophanes kompetente Interpreten, die voll stimmlicher Lust und Hingabe bei der Sache sind.
"Die Vögel" sind ein keckes Experiment mit Klang und Sprache und ideal für alle, die schon immer einmal wissen wollten, wie sich eine Mixtur aus Mozart und Wagner, kreiert in den Roaring Twenties, anhören könnte. Nach der Vertreibung des Komponisten durch die Nazis geriet sein Werk in Vergessenheit; seine "Vögel" allerdings erlebten 1994 in Berlin eine triumphale Aufführung.
Von ganz anderem Zuschnitt ist die Oper nach dem Jules-Verne-Roman "Das Schloss in den Karpaten" von Philippe Hersant (*1948), die zwischen 1989 und 1992 entstand. Hersants hervorragendes Gespür für Klänge und Arrangements, Dynamik und ungewöhnliche melodische Wirkungen machen das Werk zu einem beeindruckenden Wurf.
Zwar wirkt das "Schloss" in seiner musikalischen Gestalt statisch und monumental, doch stets gelingt es den Instrumentalisten vom Philharmonischen Orchester Montpellier unter David Robertson den Feinheiten der opulenten Partitur nachzuspüren. Das Ensemble kennt das Werk bestens, denn es bestritt auch die Uraufführung in Montpellier. Alban Berg und der frühe Schönberg klingen ebenso an wie Janacek, Bartok und Débussy - Philippe Hersant bedient sich mit sicherer Hand aus dem Fundus seiner Favoriten. Der Ton bleibt stets individuell; sein "Karpatenschloss" baut sich zum verstörend faszinierenden Spektakel auf.
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